RÜCKBLICK
Bei aktiviertem JavaScript können Sie die Texte der ersten drei Platzierungen der Jahre 2010 bis 2012 direkt hier lesen. Klicken Sie dazu auf auf das Wort »lesen« rechts neben der jeweiligen Platzierung. Unter den Platzierungen finden Sie unsere Broschüre mit den jeweils ersten Plätzen der Jahre 2009 bis 2011.
Alternativ finden Sie alle Texte sowie weitere, nicht prämierte Einsendungen auch auf den Seiten des Leipzig Almanach.
2013
1.Platz
Barbara Schnalzger »Familienspuren im Dazwischen«
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Friedrich-Rochlitz-Preis für Kunstkritik 2013, 1. Platz: Rezension über eine Lesung mit der ehemaligen Grünen-Politikerin Jutta Schwerin, die ihre Autobiografie „Ricardas Tochter“ vorgestellt hat
Ein bequemer Sessel, Tisch und Leselampe stehen bereit für Jutta Schwerins Lesung aus ihrem Buch „Ricardas Tochter. Leben zwischen Deutschland und Israel“. Doch Jutta liest im Stehen, damit „alle mich verstehen können“ im übervollen Raum des Casablanca e.V. in Leipzig-Lindenau. Das Mikrophon versagt kurz vor der Veranstaltung den Dienst – dennoch: Jutta Schwerins Bericht lässt das Auditorium verstummen. Kaum ein Husten, Stühleknarren oder Gläserklirren stört die Stimme der Frau, die ihre eigene Geschichte und notwenig damit zusammenhängend die Geschichte ihrer Mutter Ricarda erzählt. Die Moderatorin des Abends versucht behutsam, die ältere Dame in den Abend zu führen, gibt eine kurzen, respektvollen Einblick in Jutta Schwerins Leben als Ausgangspunkt der Lesung. Jutta ist das zu zaghaft, zu höflich und zu förmlich. Sie bricht kurzerhand mit Schicklichkeit und Generationsgrenzen, schlüpft aus ihren Schuhen, stellt sich hin und liest.
Sie beginnt ihre Lesung im Jahr 1932, als ihre Eltern Heinz und Ricarda, beide Kommunisten, er Jude, unter Mitwirkung Mies van der Rohes und Wassily Kandinskys ihr Studium am Bauhaus in Dessau abbrechen müssen. Nüchtern wirkt die Schilderung der Odyssee ihrer Eltern von Dessau über Frankfurt am Main nach Prag und letztlich nach Tel Aviv im Jahre 1935: „Heinz und Ricarda waren keine Zionisten, sie wollten eigentlich nicht nach Palästina. Einen anderen Ort hatten sie aber nicht.“ Schon in diesen frühen Stationen des Buches deutet sich die intensive und konfliktreiche Auseinandersetzung mit ihrer Mutter Ricarda an: feingliedrig beschreibt Jutta die Gefühle ihrer Mutter bei der Ankunft in Tel Aviv, bei ihrer Suche nach einem Ort, an dem es sich besser Leben lässt als in der heißen Großstadt, den Stolz Ricardas auf die Werkstatt für Holzspielzeug, die die Eltern zusammen in Jerusalem eröffnen und ihren Mut und die Kraft, als sie nach Heinz Tod 1948 ihre fünfköpfige Familie allein versorgen muss. Ricarda will sich Zeit ihres Lebens nicht integrieren, lernt kein hebräisch und erzieht ihre Kinder antinational, antimilitärisch und atheistisch. Früh deutet sich bei Jutta, die 1941 in Jerusalem geboren ist, ihre starke und eigensinnige Persönlichkeit an. Den Wechsel vom Handarbeits- zum Werkunterricht boxt sie auf eigene Faust und mit der Unterstützung ihrer Mutter durch. Erstaunte und bewundernde Lacher im Publikum, als Jutta schildert, wie sie damals als 17-jährige Premierminister David Ben-Gurion höchstpersönlich trifft, da sie den Militärdienst verweigern will. Wie sie sich mit Briefen an Politiker wendet, deren politische Einstellung sie falsch findet. Wie sie entscheidet, in ein Kibbuz zu gehen. Wie sie entscheidet, in Deutschland zu leben.
Jutta Schwerin setzt sich kurz, nimmt einen Schluck Wasser. Als Zuhörende will man in diesem Moment eigentlich nur eines: mehr erfahren. Jutta kehrt in ihre Leseposition zurück: „1960 verließ ich Israel.“ Der zweite Teil des Buches spielt in Deutschland, wo die junge Frau Architektur studiert und ihre politischen Aktivitäten als Mitglied des SDS fortsetzt. Die Moderatorin übernimmt an dieser Stelle und liest die nächste Textpassage. Das ist fast erleichternd, die neue Stimme ist weniger nüchtern, weniger abgeklärt. Inhaltlich erleichtert nichts. Jutta lebt erst in Stuttgart, dann in Ulm, in einem Land, in das sie "unüberlegt, fast aus Versehen" gegangen ist. In einem Land, in dem sich die Zimmersuche als schwierig erweist: In einem der angebotenen Zimmer hängt das Bild eines Kriegsgefallenen mit Hakenkreuz und Reichsadler. Wir Zuhörenden schämen uns in Grund und Boden. Bei einem anderen Angebot fragte die Vermieterin, ob sie denn „Halbjüdin“ sei? „Ich bin nichts Halbes. Ich bin jüdisch und nicht-jüdisch zugleich.“ Sie sagt auch diese Wohnung ab.
Jutta sieht auf, zu uns ins Publikum, schüttelt und lockert die Schultern, rückt die Brille zurecht und sagt, als ihr Blick zurück in den Text geht: „Ich blieb bei der Politik.“ Sie gründetin den 1970ern einen Kinderladen und eine Frauenzentrum mit, wird Stadträtin, dann Bundestagsabgeordnete für die Grünen. Ende der 1980er wird sie berühmt durch ihren Zwischenruf bei der Rede zum 50jährigen Gedenken an die Reichspogromnacht, außerdem durch ihren Widerstand gegen die damalige Schwulen- und Lesbenpolitik. In einem Brief an den Bundestagspräsidenten schreibt sie: "Wenn die Bezeichnungen 'schwul' und 'Lesbe' für den Bundestag nicht gut genug sind, wie ungemein schlecht muss es dann erst sein, als Schwuler oder Lesbe zu leben."
Jutta Schwerin lässt uns Zuhörende den Spuren einer Familie folgen, die im Dazwischen – zwischen dem erst lebensgefährlichen und dann schwarzbraunsumpfigen Deutschland und dem fremden, vor allem für Frauen alltagsharten Israel – einen Platz zum Leben suchen. Jutta bleibt in Deutschland, engagiert sich weiterhin politisch und feministisch und arbeitet bis 2008 als Architektin in Berlin.
In der Lesung begegnen uns viele Personen, die Jutta Schwerin bewundert. Wir erfahren eine in dieser kurzen Zeit kaum überschaubare Fülle an politischen und privaten Ereignissen aus dem Leben der nun grauhaarigen Frau. Auf eine Person kommt Jutta aber immer wieder zurück, auch am Ende der Lesung: Ricarda, ihre Mutter. Eine „unglückliche Liebesbeziehung“ habe Mutter und Tochter das ganze Leben verbunden, so Jutta. Auf der einen Seite steht die große Bewunderung für Ricarda, die selbstbestimmt und mutig für sich und ihre Kinder sorgte. Auf der anderen Seite steht das große Unverständnis zwischen beiden Frauen, zum Beispiel, als Ricarda Juttas Scheidung von Ulrich Oesterle und ihre Entscheidung, fortan mit einer Frau zu leben, kommentiert: Eine "kaputte Familie" sei etwas ganz schlimmes.
Jutta Schwerin schließt das Buch und setzt sich. Sie antwortet auf die nicht enden wollende Frageabfolge aus dem Publikum. Signiert Bücher. Beantwortet mehr Fragen. Als sie dann mit dem Taxi weggefahren ist, erscheint der menschenvolle Raum sehr leer.
Lesung mit Jutta Schwerin
aus ihrem Buch „Ricardas Tochter. Leben zwischen Deutschland und Israel“
Eine Veranstaltung des queer-feministischen Abends joseph_ine in Kooperation mit „outside
the box – Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik“ und der Buchhandlung drift.
21. November 2012, Bäckerei, Josephstraße 12, Leipzig
2.Platz
Paula Franke »Luxus der Bescheidenheit«
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Friedrich-Rochlitz-Preis für Kunstkritik 2013, 2. Platz: Rezension über eine Fotoausstellung im Grassi-Museum über das Künstlerpaar Lillian Bassman und Paul Himmel
Das Künstlerpaar Lillian Bassman und Paul Himmel hat in New York 71 Jahre lang zusammen gelebt und gearbeitet. Beide erschufen ein eigenes, beeindruckendes OEuvre. Lillian Bassman gilt als eine der wichtigsten Modefotografinnen des 20. Jahrhunderts und feierte vor allem in den 50er Jahren große Erfolge. Auch ihr Mann Paul Himmel fotografierte für Modemagazine, widmete sich dann jedoch maßgeblich dokumentarischer, aber auch experimenteller Fotografie. Was kann es bedeuten, für die Fotografie zu leben? Das versucht die erste gemeinsameRetrospektive der beiden Künstler zu zeigen. „Zwei Leben für die Fotografie“ ist alsSonderausstellung im Grassi Museum für Angewandte Kunst Leipzig zu sehen.
Als Paar im gleichen Bereich zu arbeiten, mag gefährlich sein: Konkurrenz, Neid und symbiotische Abhängigkeit kann jedoch einem Pol von Inspiration, Ermutigung und Antrieb gegenüber stehen. Die Künstlerin Lillian Bassman stellt im Katalog zur Ausstellung eine verblüffend einfache Trennung zwischen dem gemeinsamen künstlerischen Schaffen fest: Ihr Werk sei eben feminin, das ihres Mannes viril. Im Grassi Museums zeigt die eine Wand Bassmans Werke, gegenüberliegend sind Paul Himmels Fotografien zu sehen. Der femininenSeite zugewandt, kann man filigrane Modefotografien entdecken. Nach einigen Anlaufschwierigkeitenkonnte Lillian Bassman in den 50er Jahren schließlich Aufträge für bekannte Modemagazine wie Harper’s Bazar oder die Vogue an Land ziehen, für die sie bis in die 90er Jahre hinein arbeiten sollte. Durch eine besondere Technik erzeugte die Künstlerin eine Komposition aus Malerei und Fotografie. Ihre Schwarzweiß-Fotografien haben eine weiche Optik, wirken teilweise wie Kohlezeichnungen. Dieser fuzzy look kam durch Bearbeitung der Abzüge in der Dunkelkammer zustande. Mit Bleichmittel durchtränkte Gaze und Schwämme wurden Bassman zum Werkzeug, um scharfe Konturen zu verwischen, Details genau herauszuarbeiten und der Fotografie schließlich eine Stimmung zu verleihen, in dem das Aussehen des Models über die Mode hinaus seinen eigenen Stil, seine eigene Ausstrahlung finden sollte. Die Modefotografien sind ein sinnliches, wohltuendes Erlebnis. Die Bearbeitung der Bilder verwischt die Realität im wahrsten Sinne des Wortes. Dadurch entsteht eine fastunwirkliche Schönheit, zu derem surrealen Abbild das Model wird. Es ist diese besondere weibliche Eleganz, die Bassmans Bilder betörend macht: Schultern zurück, Kinn gehoben. Alles mit einer gewissen Leichtigkeit, in der Satinstoffe und Spitzenwäsche geradezu zelebriert werden.
Paul Himmels Werk gegenüber besticht durch eine Vielfältigkeit, welche für die Kuratoren ein Geschenk gewesen sein muss. Neben Fotografien seiner Reisen durch Osteuropa ist hier auch ein Projekt zu sehen, bei dem Himmel die Bewegung von Balletttänzern durch Langzeitbelichtung einzufangen versuchte. Ein interessantes Seherlebnis sind die verwischten Bewegungen der Pirouetten und Sprünge, die durch die lange Belichtung in weißen Schleiern hinter den Tänzern herwabern. Beeindruckend ist auch die Reihe Nudes, die, großformatig abgezogen, nackte Frauensilouetten in extrem grobkörniger, fast geisterhaft wirkender Unschärfe zeigt. Paul Himmel war mit diesen Experimenten seiner Zeit voraus und traf nicht so sehr wie seine Frau den Geist der Nachkriegskonsumwirtschaft. Lange blieben Teile seines Werks unbeachtet, einiges vernichtete Himmel im Laufe der Zeit. Gut, dass es hier nun die Beachtung finden kann, die es verdient. Und doch dominiert Lillian Bassman diese gemeinsame Retrospektive, was sicher ihrer klareren künstlerische Linie zuzuschreiben ist.
Die Werkschau verschafft durch ihre Vielfalt einen genauen Überblick über das OEuvre der beiden Künstler und zeigt zugleich Fotografiegeschichte aus dem 20. Jahrhundert. Himmels Fotos von Massen eilender Mantelträger an der Grand Central Station, in denen er den Kontrast von Hast und Stillstand einzufangen versucht und Bassmans stolze Abbildungen eines immer selbstbewussteren Frauentypus’ sind treffsichere Zeitzeugnisse des New Yorks der 40er und 50er Jahre. Paul Himmels Solarisationsfotografien, die er nachträglich mit Farbe angereichert hat, erwecken einen fast futuristischen Eindruck und Bassmans erste Versuche in der Farbfotografie sind auf naive Art und Weise mutig.
Den Plan, die Besucherherzen endgültig für dieses fotografische Lebenswerk zu gewinnen, haben die Hamburger Kuratoren Woischnik und Taubhorn konsequent und bis ins letzte Detail verfolgt. Im zweiten Raum eröffnet die Ausstellung einen sehr privaten, fast intimen Zugang zum Künstlerpaar. Hier sind die fotografischen Anfänge zu sehen, die sich in einer künstlerischen Dokumentation des Familienlebens offenbaren. Die junge Lillian am Morgen nackt in den weißen Bettüchern, daneben der ebenso nackte Paul. Er lesend am Strand. Sie, schwanger im Nachthemd am Fenster der New Yorker Wohnung. Dann als Mutter, Gesicht an Gesicht mit den Kindern. Es scheint, als hätten die Beiden zunächst das portraitiert, was sich als Zauber und intimes Eigenes aus ihrer persönlichsten Umgebung herausfiltern ließ, um dann ihren Blick für das große Draußen zu weiten. Zwei Leben für die Fotografie.
Trotz ihres Alters sind Bassmans und Himmels Fotografien zeitgemäß. Denn die Arbeit mit Verfremdung und Bearbeitung ist eine dem digitalen Zeitalter umso verständlichere. Manchmal wünscht man sich beim Betrachten der Bilder regelrecht in das analoge Zeitalter zurück, um den so kinderleicht gewordenen Vorgang des Retuschierens wieder zum ehrlichen Handwerk erklären zu können. Das mediale Element der Ausstellung, ein kurzer Dokumentarfilm, der das hoch betagte Künstlerpaar in seiner New Yorker Wohnung zeigt, ist zwar interessant, doch entzaubert er zu sehr. Schließlich erzählen die Fotografien selbst ja auch schon viele der Lebensgeschichten. Ob Dokumentationen, Experimente oder Mode: Alle Bilder haben eine authentische und ehrliche Ausstrahlung, wirken trotz luxuriöser Extravaganz bescheiden, beinahe zurückhaltend. Ihre Kunst hat das Künstlerpaar Bassman und Himmel reich werden lassen. Nicht nur materiell, sondern vielmehr auf inspirierende und produktive Art und Weise. Das trägt ihr Werk und verleiht dieser Ausstellung eine zeitlose Dringlichkeit.
Zwei Leben für die Fotografie
21. November 2012 – 3. März 2013, Grassi Museum für Angewandte Kunst Leipzig
3.Platz
Katharina Schmidt »Der Teufel war dabei«
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Friedrich-Rochlitz-Preis für Kunstkritik 2013, 3. Platz: Rezension über die Bühnen-Performance „How do you imagine the devil?“ von Dani Brown, in der sie ihr Publikum mit sich selbst konfrontiert
„Tonight will never be repeated.“ Mit Nachdruck und bestimmt wiederholt Dani Brown diesen Satz noch einmal. Fast wirken ihre Worte wie eine Drohung, adressiert an das Publikum.
In High Heels, einem Hosenanzug und mit rot geschminkten Lippen betritt Dani Brown die Studiobühne. Bedacht geht sie die Bühne auf und ab und fixiert dabei die Zuschauenden. Sie schaut mir tief in die Augen. Ihre Absätze klacken am Boden mit jedem Schritt: „Good evening Ladys and Gentlemen. I'm very happy to be here tonight. I trained hard the last couple of months to show this performance.“ haucht Dani Brown in ein Mikrofon. Ihre rauchig, fast lasziv wirkende Stimme erfüllt den Raum und schafft Unbehagen. Ich kann ihr kaum in die Augen schauen, solch eine Dominanz übt sie auf mich aus. „Do whatever you want to do with me.“ fordert Dani Brown schließlich uns, das Publikum, auf. Die Zuschauenden verstummen vollkommen. Eine Frau in der vordersten Reihe steht nach einer Weile auf und küsst Dani Brown. Ein vorsichtiger, zaghafter Kuss, der noch mehr Unbehagen in mir auslöst. Absolute Stille im Raum. Wer ist diese Frau, die die Bühne betritt und in ihrer Hingabe dem Publikum gegenüber zugleich ein solches Dominanzgefälle aufbaut?
„How do you imagine the devil?“ ist Dani Browns erste Soloproduktion. Die junge, US-amerikanische Nachwuchskünstlerin zog es vor einigen Jahren nach Europa, wo sie 2005, nach ihrem Abschluss am Arnhemer College of Art (Niederlande), das Künstler_innenkollektiv Fingersix mitbegründete. Momentan ist sie in Hamburg ansässig. An diesem Abend, dem 26. April 2013 zeigt Dani Brown ihr Solo im Rahmen der Veranstaltungsreihe International Friday im Lofft, Leipzig.
Wer ist diese Frau? Die Frage drängt sich umso mehr auf, als sie beginnt sich auszuziehen und den Hosenanzug gegen Turnschuhe und Trainingshose tauscht. Eine sportliche, junge Dani Brown hüpft da auf der Bühne: „Hey guys! It's just awesome being here with you tonight. I worked like hell for my show!“ Sie spricht mit einschlägigem Südstaaten-Akzent und hat wohl schon viel erlebt in ihrem Leben. Was davon der Wahrheit entspricht, dass überlässt sie dem Publikum.
Dani Brown wird an diesem Abend noch so einige Metamorphosen durchlaufen. Teils lässt sie das Publikum Zeuge sein dieser metamorphen Übergänge von einer Person in eine andere. Dann wiederum verschwindet sie hinter der Bühne und zeigt sich unvermittelt in einem anderen ‚Ich‘. An den Grenzen dieser vielen ‚Ichs‘ kippt zugleich das vermeintlich Menschliche ihrer Persönlichkeiten ins Animalische. Sie verzerrt in diesen Momenten ihr Gesicht bis zur Unkenntlichkeit. Aus ihrem Mund sprudeln Laute, die nichts mehr bedeuten.
'Pure' lebendige Ausdruckskraft tritt zutage. Ihre Bewegungen erinnern von Zeit zu Zeit an die einer 'Untoten', wie sie in Zombie-Filmen choreografiert werden. Der Körper wirkt zersplittert, Arme und Beine agieren losgelöst voneinander, der gesamte Rumpf bäumt sich auf. Im nächsten Moment bringt Dani Brown dem Publikum fachlich fundiert die Besonderheiten des Lap Dance' näher. Dieser bleibt jedoch meiner Imagination überlassen. Ich folge ihrer Einladung hinter den Vorhang nicht und bleibe auf meinem Stuhl sitzen.
„How do you imagine the devil?“ - eine Performance der Extreme. Weder Dani Browns nackter Körper noch ihre physischen Grenzerfahrungen, denen das Publikum beiwohnt, wirken extrem. Der Einsatz von Nacktheit ist längst weit verbreitetes Stilmittel auf den Bühnen der freien Tanz- und Theaterszene. Nacktheit erregt keinen Anstoß mehr, zumindest solange der nackte Körper gut durchtrainiert und entsprechend in Szene gesetzt ist.
Vielmehr als ihre Nacktheit, ist es die Art und Weise, in der Dani Brown ihr Publikum involviert: unberechenbar und erbarmungslos. Sie verführt das Publikum durch schlichtweg überzeugendes, theatralisches Können. Eine erbarmungslose denn genussvolle Verführung, da ich ihre hingebungsvolle Nacktheit ertragen muss bzw. viel entscheidender mich in der Position der Voyeuristin. Es sind die eigenen Haltungen gegenüber der multiplen Dani Brown, die Unbehagen auslösen. Haltungen in die mich ihre verschiedenen Rollen auf der Bühne unnachgiebig drängen. Um mich herum Stille, angespannte Stille. Womöglich geht es den anderen auf der Publikumstribüne ähnlich.
Es ist ihre erste Soloproduktion, in der Dani Brown das Format des Solos zugleich weit über seine Grenzen führt. Eine One-Woman-Show, die die eigenen physischen Grenzen und die Grenzen in der Beziehung zum Publikum stetig austestet. Die im Grunde das Solo als einen andauernden Dialog anlegt. Dabei muss ich gar nicht aktiv antworten. Die Antwort übernehmen wie von allein die verschiedenen Rollen, in die mich Dani Brown drängt. In jedem Moment dieser Performance, mit jeder Bewegung und jedem neuen Satz schwingt zugleich der Subtext mit, wie weit Dani Brown heute Abend mit uns gehen kann. Es ist eine erbarmungslose Konfrontation mit mir selbst. Konfrontiert damit, verführt worden zu sein.
„This is the end!“ schreit Dani Brown ins Publikum während sie die Hände einer Zuschauerin fest packt. Nach diesem Schrei, Stille im Raum, die nur langsam durch zaghaftes Klatschen und schließlich lauten Applaus durchbrochen wird. Auf Dani Browns Webseite ist ein Teaser der Soloproduktion „How do you imagine the devil?“ zu finden. Das Publikum dieses Zusammenschnitts lacht am Ende laut und gelöst. Eine vollkommen andere Atmosphäre als in Leipzig: „Tonight will never be repeated“.
How do you imagine the devil?
Solo-Performance von und mit Dani Brown
Veranstaltungsreihe International Friday
26. April 2013, Lofft, Leipzig
2012
1.Platz
Tobias Ossyra »Rebellen, an die Posaunen!«
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Extra Action Marching Band auf Europa-Tour: Die Blechblas-Guerilla wütet im UT Connewitz. Der Gewinnertext: 1. Platz beim 7. Friedrich- Rochlitz-Preis für Kunstkritik 2012
Reißt nieder das Selbstverständnis von Sitte und Anstand, in Stücke die aufgesetzte Moral und euch auf keinen Fall zusammen! So oder ähnlich muss es Simon Cheffins, Kopf der extrovertierten Extra Action Marching Band, seinem Zwanzig-Köpfer aus blechblasenden, schlagwerkenden, Pompon schüttelnden und hüftschwingenden Kaliforniern für die bevorstehende Bühnenshow eingebläut haben. Denn das, was das bedingungslos verrückte Oaklander Ensemble im geschichtsträchtigen Kinosaal des UT Connewitz inszeniert, stellt die (heutzutage gut geschulten) Ego-Ausbrüche gängiger Rock/Pop-Konzerte rotzfrech in den Schatten.
Keine drei Takte dauert es, bis ein Quintett blondperückter Cheerleader in Glitzer-Tangas das Publikum nach vorn treibt, mit ihm auf Tuchfühlung geht – Umarmungen und Halsküsse hier, Porno-Posen und ekstatische Anmachen dort – und in wilder Entschlossenheit zum Tanzen animiert. Posaunen und Trompeten knarzen Stakkato-Salven in den Saal, von Tuben umschlungene Südstaatler in kurzen Hosen und Zirkus-Westen schieben Humpa-Humpa-Basslinien darunter. Fünf Tieftrommler und Percussionisten prügeln martialisch ihre Schlagfelle, schnelle Wirbel sind die taktfüllende Maxime, irgendwo zwischen »Samba de Janeiro« und Safri-Duo. Aufbrausend, dynamisch, den Beat am Tempolimit, wechseln die Genres so schnell wie die Titel; von typisch amerikanischen High-School-Hymnen über New-Orleans-Nummern Marke Mardi Gras, hin zu Osteuropas bittersüßen Balkan-Melodien und – in der Tat – einer Coverversion von Black Sabbath' »Behind the Wall of Sleep«. Würde Ozzy Osbourne jetzt auftauchen und, wie zu seinen besten Zeiten, einer Fledermaus den Kopf abbeißen, im turbulenten Chaos dieses Abends wäre keiner der Gäste verwundert.
Neben allen klanglichen Reizen setzt der selbstbewusste Haufen auf Sex-Appeal á la Rocky-Horror-Show. Die Glitzer-Girls räkeln sich auf dem kalten Steinboden die Libido aus dem Leib (wenn sie nicht gerade einem Zuhörer auf die Schultern springen) während halbnackte Männer in Hotpants im Hintergrund schwarz-rote Flaggen schwenken. In einem Bundesstaat, in dem die Porno-Industrie jährlich mehrere Milliarden Dollar umsetzt, mag das zum guten Ton gehören, den anfänglichen Kulturschock muss aber selbst das Tumult gewohnte Connewitzer Publikum kurz verdauen, bevor es ihn genießen kann. Die Extra Action Marching Band ist der personfizierte Punk, ein ungestümes Ungetüm marschierender Rebellen auf Konfrontationskurs mit dem Normalen, Gesetzten, Biederen. Anarchie ohne Mittelfinger, denn Cheffins ironischer Gegenentwurf zur Gesellschaft wird anderweitig deutlich: verwischte Schminke entgegen schöner Fassaden, ausgelebte Tanzwut entgegen bürgerlicher Spießigkeit, triebhafte Gesten entgegen verklemmter Gefühlsunterdrückung. Kritik als musikalische Spaß-Botschaft, frivole Lebenlust, ansteckende Freude an der Exzentrik und zelebriertes Anders-Sein bilden das Manifest der kalifornischen Kapelle, die vor der erzwungenen Ästhetik des einhundert Jahre alten Portikus-Reliefs, vor den geradlinigen Pilastern und der geschwungenen Loge von Leipzigs ältestem erhaltenen Lichtspielhaus keinen krasseren Kontrast bilden könnte. Ein Glück, mag manch Besucher denken, dass im Union-Theater noch immer Putz von den Wänden bröckelt und der marode, kaputte Charme der Szene-Location die aberwitzige künstlerische Darbietung letztlich in ein Gesamtbild fern herausgeputzter Oberflächen taucht.
Am Ende des 90-minütigen-Spektakels, dessen Hauptteil die Combo mit überschwänglichen aber liebevollen Verbrüderungsabsichten unterhalb der Bühnenkante verbracht hat, schenkt die Extra Action Marching Band den Konzertgängern noch ein Souvenir für den Weg nach Hause: das gute Gefühl, seit langem etwas völlig Verrücktes erlebt zu haben.
Extra Action Marching Band, Europa-Tour 2012
13. Juni 2012, UT Connewitz
2.Platz
Matthias Haft »Und was macht man damit?«
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Ein Publikum betrachtet sich selbst: »Gehen Sie über Los« auf der TheaterPACK-Sommerbühne im Westwerk – 2. Platz beim 7. Friedrich-Rochlitz-Preis für Kunstkritik 2012
Drei Studentinnen stecken fest. Drei Lebensentwürfe zum Zeitpunkt ihrer akademischen Grundlegung, hier schon stottert die Maschine Mensch. Ob mit oder ohne Masterplan, von Tag zu Tag schlendernd oder hetzend, die Frage ist stets dieselbe: »Was bringt es mir, dieses Studium?« »Gehen Sie über Los« von Aline Schluroff, Germanistikstudentin an der Universität Leipzig, ist ein Theaterstück über den immer wieder scheiternden Versuch, das Studium in irgend einer Weise für das Leben nutzbar zu machen, es jenseits der jeweiligen inhaltlichen Fragestellung zu verstehen. Also: Was ist das Wesen des Studiums? Porträtiert wird eine Generation, die sich in dem Versuch einer Sinngebung zerreibt.
Als gemeinschaftliche Seminararbeit für die Tagung »Omnia vincit labor? Narrative der Arbeit und Arbeitskulturen in medialer Reflexion« entstanden, wurde das Stück am 6. Juni 2012 auch auf der Sommerbühne des Westwerks aufgeführt. Zwei Stühle, zwei Tische (darauf verteilt: Bücher und Küchengeräte), ein Sofa, utopische To-Do-Listen zieren die Wände im Hintergrund: viel mehr braucht es nicht. Ein Bauzaun trennt die Bühne vom Parkplatz des Geländes. Während der Aufführung kommen Autos an und fahren ab, einmal übertönt ein Motor die Schauspielerinnen. Das Publikum ist jung, Studenten – Betroffene also. Man kennt sich.
Die Handlung ist dem Unialltag entnommen: Ina ist neu in der Stadt, neu an der Uni, Erstsemester Germanistik, idealistisch und blauäugig. Und sie ist »die Neue« in der WG. Marie studiert Jura und kennt sich aus, Leben heißt bei ihr Planung, also nimmt sie sich der desorientierten neuen Mitbewohnerin an und unterrichtet sie in der Kunst von Organisation und Optimierung. Ella ist die Dritte im Bunde. Sie studiert Schauspiel und steht kurz vor ihrem Abschluss, ausgelassen überspielt sie ihre zunehmende Verunsicherung. Eigentlich sind da noch Max, der Medizinstudent, und Ignazius von und zu Bösental, doch beide treten nicht in Erscheinung, sie bleiben Phantome, ersterer will dann doch nur mit Marie befreundet bleiben, erzählt die Unglückliche, letzterer hingegen habe plagiiert und würde nun exmatrikuliert, weiß Ella. Die Szenen sind durch kurze Einschübe voneinander getrennt. Zwei anonyme Studentinnen, schwarzgekleidet, weißmaskiert, sonnenbebrillt, durchmessen den Raum wie Roboter. Sie verlesen mit monotoner Stimme ihren statistischen Wert, abstrakte Studienordnungen und große Worte großer Geister. Mit Taschenlampen leuchten sie willkürlich in die Gesichter der Zuschauer, als forderten sie sie heraus: »Euch betrifft es doch auch!«
Mit Witz und Selbstironie inszeniert das 7-köpfige Team die turbulenten Studienjahre. Leistungsdruck und Lebenslaufoptimierung, Sinn- und Orientierungslosigkeit, Kompromisse und Rückschläge: All das scheint dem Publikum bekannt. So ist das Stück vor allem Selbstbeobachtung. Wissend wird geschmunzelt und gelacht, wiedererkannt.
Dabei erscheint das Studium in allen drei Fällen als ein Missverständnis. Was bei Marie und Ella nur erahnt werden kann – ihre Studiengänge könnten nahtlos, zwingend in einen passenden Beruf münden –, wird bei Ina umso augenfälliger. Die Germanistik ist ein weites Feld, sie eröffnet Möglichkeiten und damit zugleich Verunsicherung. Vor der frühen Optimierung des eigenen Lebenslaufs ist indes auch sie nicht gefeit. Wie ihre Mitbewohnerinnen sucht sie sich einen Nebenjob, der das Studium aufwertend ergänzt, also irgendwie mit Büchern zu tun hat: sie jobbt bald in der Unibibliothek und ihre Chefin ist die verhasste »Trulla«. So verkommt das Studium zum bloßen Vorspiel, zur notwendigen Bedingung des späteren Berufs; es ist überhaupt nur in ökonomischen Kategorien wert- und sinnvoll, begrifflich fassbar, denkbar; es ordnet sich ein in die witzlose Teleologie des pragmatischen Lebens. Ina, Marie und Ella sind die schillerschen »Brodgelehrten«, sie betreiben »Brodstudien«, Studium als Selbstzweck denken sie nicht. Alle drei erkennen, dass etwas schiefläuft, doch was es ist, bleibt ihnen verborgen, kann nicht auf den Punkt gebracht werden. Und so bleibt der von Ella initiierte choreografierte Kollektivausbruch am Ende folgenlos. Er ist Moment und wird durch Resignation ersetzt. Was bleibt, sind die fragenden Gesichter der Figuren und des Publikums, das sogar noch seinen Einsatz verpasst und erst klatscht, als sich die Schauspielerinnen vor der Bühne aufreihen.
Gehen Sie über Los
Regie: Aline Schluroff
Darstellerinnen: Lena Franke, Nadine Kelber, Aline Schluroff, Anna Sonntag und Paulin Wagner
6. Juni 2012, TheaterPACK-Sommerbühne im Westwerk
3.Platz
Katja Wallenhorst »Nichts anderes als Worte, Worte, Worte über Bücher«
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Das Politische Quartett von Schaubühne Lindenfels und Friedrich-Ebert-Stiftung – 3. Platz beim 7. Friedrich-Rochlitz-Preis für Kunstkritik 2012
Das Lamentieren über unsere unpolitische und desinteressierte Gesellschaft ist weit verbreitet. Mittlerweile hat sich jedes größere deutsche Feuilleton schon an der Ursachenforschung versucht, worauf der Rückzug ins Private denn wohl gründe. Da wird dann immer auch mal an der Kommunikationskultur der Parteien und Politiker herumgemäkelt; es heißt, Politik könne den modernen Menschen nicht mehr begeistern und zur Teilnahme bewegen. Das Büro Leipzig der Friedrich Ebert Stiftung setzt genau an diesem Kritikpunkt an, wenn es durch ein neues Format politische Bildung spannender und öffentlichkeitswirksamer zu gestalten versucht, was, um es vorweg zu nehmen, gut gelingt. Die Idee besticht durch ihre Einfachheit, auf die man aber auch erst einmal kommen muss: Man nehme ein erprobtes Fernsehformat und lasse vier Menschen statt über Romane über politische Bücher diskutieren. Herausgekommen ist das »Politische Quartett«, eine Veranstaltung, in der neue gesellschaftspolitische Bücher innerhalb einer Diskussionsrunde vorgestellt werden. Zuvor schon in anderen Städten von der Friedrich Ebert Stiftung langjährig veranstaltet, ist dieses Format seit einem Jahr auch in Leipzig angekommen.
Die Diskutant_innen sind nicht ganz so berühmt wie die des Fernsehvorbildes »Das literarische Quartett«, die Sitzgruppe auf dem Podium ist nicht ganz so komfortabel und die Bücher durch die Besprechung in dieser Runde sicher nicht auf dem Weg in die Bestsellerliste, doch das Anliegen bleibt gleich: Menschen auf lockere Art und Weise an – hier eben politische - Literatur heranzuführen. Das Publikum scheint sich angesprochen zu fühlen, denn die Kinositzreihen sind gut gefüllt als das Quartett im Juni zum mittlerweile vierten Mal in der Schaubühne Lindenfels stattfindet. Dort ist es zwar nicht der Rote, sondern der »Grüne Salon«, in den die Friedrich Ebert Stiftung lädt, doch tut das der Redefreudigkeit der Diskutierenden keinen Abbruch. Die Diskussion bleibt auch deshalb die ganze Zeit über so lebendig, weil die angekündigten Vertreter aus Politik, Wissenschaft, Medien und Kultur ihre ihnen zugedachten Rollen voll erfüllen. Dirk Panter, der sich vom Investmentbanker zum Generalsekretär der SPD Sachsen entwickelt hat, argumentiert stets als politischer Praktiker und vergisst fast nie, sozialdemokratische Grundansichten in seiner Beurteilung der Texte zu platzieren. Die Politikwissenschaftlerin Rebecca Pates provoziert gern mit scharfsinnigen Thesen und behält als Moderatorin der Runde gekonnt den Überblick über Redebeiträge und die Zeit. Vorgestellt werden vier Bücher in zwei Stunden – da müssen so manche Kommentare auf den Punkt gebracht werden, und im Pointieren ist Pates grandios. Die Rolle des politischen Laien nimmt die Leipziger Autorin Kathrin Wildenberger ein. Sie beurteilt die Bücher nicht nur nach Stichhaltigkeit der Argumente, sondern auch nach Lesefluss und Schreibstil. Wenn Wildenberger dargelegt hat, warum ihr ein Buch gut gefallen habe, liefert Rebecca Pates die Analyse, warum der Text politische Relevanz besitzt. Und Dieter Wonka, der Hauptstadtkorrespondent der Leipziger Volkszeitung, lässt das Publikum im Gespräch über politische Inszenierungen auch mal an seinem journalistischen Insiderwissen teilhaben. Angela Merkel, so weiß er zu berichten, möge ganz sicher keinen Fußball, könne es sich aber aus wahltaktischen Gründen einfach nicht leisten, wichtige Spiele der deutschen Nationalmannschaft nicht mit begeisterter Miene zu verfolgen. Dass Diskussionen mit ihren Teilnehmer_innen stehen und fallen, ist eine Binsenweisheit, die sich aber immer wieder bewahrheitet. Die Besetzung des Politischen Quartetts ist geglückt und so stimmig, dass ein kurzweiliger Gedankenaustausch zustande kommt. Dazu trägt auch die Auswahl der diskutierten Bücher bei. Vorgestellt werden Neuerscheinungen, die dem zeitungslesenden Publikum aus Rezensionen bekannt sein dürften und insofern das Meinungsbild bestimmen. Tiefergehende politische oder soziologische Analysen stehen neben eher populistischen Werken wie einem Buch über das wirkliche Leben von Deutschlands Millionären.
Marcel Reich-Ranicki leitete die erste Sendung seines »Literarischen Quartetts« 1988 mit den Worten ein, man habe nicht anderes zu bieten als Worte, Worte, Worte über Bücher und wenn‘s gutgeht, auch Gedanken – mehr ist in einer solchen Runde nicht zu leisten und muss auch gar nicht sein. Hier wie dort gilt: Wer’s genauer wissen will, muss selber lesen. Als erster Anstoß zum Nachlesen und Nachdenken ist das Politische Quartett auf jeden Fall eine hörenswerte Darbietung. Angestrebt sind drei bis vier Veranstaltungen dieser Art im Jahr. Das Quartett quartalsweise wäre unbedingt eine Bereicherung für die Leipziger Diskussionslandschaft. Gern auch, wie das literarische Vorbild, 13 Jahre lang oder länger.
Das politische Quartett
Diskussionsveranstaltung von Schaubühne Lindenfels und Friedrich-Ebert-Stiftung
06. Juni 2012, Schaubühne Lindenfels
2011
1.Platz
Anja Scharruhn »Hope and Glory«
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Friedrich-Rochlitz-Preis für Kunstkritik 2011, Platz 1 für Anja Scharruhn – Mit seinem aktuellen Programm »The romantic violinist – a Celebration of Joseph Joachim« gastierte der 37-jährige Star-Geiger Daniel Hope im Gewandhaus
Es ist seltsam berührend, einem weltweit gefragten Solisten wie Daniel Hope in der nüchternen Atmosphäre eines Kammermusiksaals zu begegnen, fernab von Büchern, CD-Covern oder Videofilmen. Seriosität und Gelassenheit gehen von ihm aus, schon die ersten Töne brechen das Eis. Sein Ton ist dunkel und imponierend schön. Kraftvoll zieht er den Bogen über die Saiten, schlafwandlerisch sicher intonieren seine Finger, vor allem im ersten Teil. Unwillkürlich hält man den Atem an und registriert das verstohlene Raunen des Publikums.
In Verbeugung vor dem österreich-ungarischen Geigenvirtuosen Joseph Joachim (1831-1907), eine der zentralen Künstlerfiguren des 19. Jahrhunderts, konzipierte Hope ein bemerkenswertes Programm, das ein Stück Leipziger Musikgeschichte heraufbeschwört: Als Wunderkind von Mendelssohn-Bartholdy in die Bürgerstadt geholt und umfassend gefördert, stieg Joachim binnen weniger Jahre zu einem der angesehensten Interpreten zeitgenössischer Musik in Europa auf. Zeitlebens pflegte er beidseitig inspirierende Freundschaften zu Johannes Brahms und dem Hause Schumann. Es sei für ihn wichtig Musik darzubieten, die ihm auch persönlich etwas bedeute, äußerte Hope einmal. Parallelen im persönlichen Werdegang der zwei Geiger ließen sich leicht herstellen.
Drei Werke von Brahms bilden den Kern der kammermusikalischen Reise in die deutsche Romantik: Das Scherzo c-Moll aus der F.A.E.-Sonate, die berühmte Regenlied-Sonate in G-Dur sowie der Ungarische Tanz Nr. 5 g-Moll in einer Fassung Joachims.
Brahms klingt ein wenig anglophoner als sonst, aber erfrischend leidenschaftlich. Hope ist den kompakten Strukturen auch in gestalterischer Hinsicht gewachsen, weiß mit harmonischen Finessen, Lautstärken und Farben umzugehen.
Süßliche Romanzen von Clara Schumann und dem Widmungsträger ergänzen dieses Grundgerüst, sie verleihen dem sehnsuchtsvoll-düsteren Zeitempfinden Ausdruck. Hope überzeugt gerade in diesen einfacheren, formal entgrenzten Stücken mit seinen tonlichen Qualitäten. Gleiches gilt für die eigens bearbeiteten Mendelssohn-Lieder „Auf Flügeln des Gesangs“ und „Hexenlied“, die leider trotz des unternommenen Versuchs nicht ohne Texte auskommen. Die c-Moll Sonate von Edvard Grieg bringt durch den nordischen Tonfall zwar ein bisschen Abwechslung, hätte jedoch gern einem gewichtigeren Stück aus dem Konzertrepertoire Joachims weichen dürfen.
Wenngleich Violine und Klavier aufgrund ihrer Beschaffenheit nicht immer harmonieren, so liegt der Reiz im Missverhältnis der Resonanzen, in der Unvereinbarkeit der Mittel und zugleich deren erfolgreichen Überbrückung. Seit längerem wird Hope von dem Pianisten Sebastian Knauer begleitet, der bei Gernot Kahl, Karl-Heinz Kämmerling und Philippe Entremont lernte. Doch bei aller technischer Versiertheit kann sein Spiel nicht immer an die Vorgaben des kongenialen Partners heranreichen. Tempoänderungen werden nur verzögert aufgenommen, die Artikulation fällt gelegentlich zu unterschiedlich aus. Dennoch, die Faszination überwiegt an diesem Vormittag und bis zur Signierstunde hat man kleine Makel fast wieder vergessen.
Konzert im Rahmen der Mendelssohn-Festtage
4. September 2011, Gewandhaus, Mendelssohn-Saal
2.Platz
Ingo Rekatzky »Endlosschleifen im Wartesaal des Lebens«
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Friedrich-Rochlitz-Preis für Kunstkritik 2011, Platz 2 für Ingo Rekatzky – Die Oper Leipzig zeigt zur Saisoneröffnung Tschaikowskis »Eugen Onegin« in der Regie von Peter Konwitschny
Ein paar Wartende in einer tristen Halle. Wohl eher zufällig an diesen Ort geworfen vertreiben sie sich die Zeit, lesen Zeitung, stricken oder wagen einen letzten Tanz. Die Stille wird von einem Betrunkenen durchbrochen, der schreiend zu Boden fällt, offensichtlich nicht zum ersten Mal. Eine Putzkolonne wischt routiniert um ihn herum, den Übrigen ist es kaum eine Notiz wert. Ziellos räumen sie mit der einsetzenden Ouvertüre den Platz für die Nachfolgenden. Mit diesem Prolog verweist Peter Konwitschny bereits auf das Hauptanliegen seiner Inszenierung von Tschaikowskis Eugen Onegin, die am 9. September 2011 die neue Saison der Oper Leipzig eröffnet hat: Ein verschiedene Gesellschaften überdauernder Kreislauf, in dem die Einzelnen immer wieder auf der Suche nach sich selbst sind – und letztendlich doch nicht ankommen.
In Tschaikowskis »Lyrischen Szenen«, die auf Puschkins mitunter zynisches Versepos Eugen Onegin zurückgehen, wird gerne das Klischee der gepflegten Melancholie russischer Seele bedient. Gediegene Salons vor weiten Birkenwäldern sorgen bei aller Schwermut für eine anheimelnde Atmosphäre. Konwitschny und sein Ausstatter Johannes Leiacker begnügen sich allerdings keinesfalls mit diesen illusionären Genrebildern. Ein leerer, tiefer Raum, dessen Treppe in der Rückwand nicht von ungefähr an die Hallen des Leipziger Bahnhofes erinnert, strahlt eine Eiseskälte aus. Empire-Sessel markieren in diesem Wartesaal des Lebens ein System, das sich selbst längst überdauert hat. Vom Chor der Landarbeiter wird ein geschlagener Birkenstamm hereingetragen und wie ein abgestorbener Maibaum aufgestellt – das Symbol der sich erneuernden Natur ist nur noch ein Stück Totholz, an dem die Protagonisten aber immer wieder Halt suchen. Da sind zum einen Tatjana und Olga, die Töchter der Gutsbesitzerin Larina. Obwohl dem Kindesalter kaum entwachsen, haben beide konkrete Vorstellungen von einem erfüllten Leben: Olga, die jüngere, konzentriert sich nur auf das Hier und Jetzt, wohingegen sich die introvertierte Tatjana ihre Ideale aus Büchern angelesen hat, die ihr Zufluchtsort sind. Larina und die Amme Filipjewna schwelgen stattdessen nur noch in der Vergangenheit, der Wodka scheint einiges in ihrer Erinnerung zurechtgerückt zu haben. Kein Wunder also, dass der Besuch des Dichters Lenskij, Olgas Verlobtem, eine willkommene Abwechslung ist, zumal er seinen Freund Eugen Onegin mitbringt. Der hat gerade eine Erbschaft angetreten, weiß hiermit allerdings nicht so recht etwas anzufangen. Trotzdem glaubt Tatjana, in Onegin den Mann ihrer Träume zu erkennen. Die Inszenierung entfaltet im nachfolgenden Quartett einen Augenblick des Glücks, weist aber auch auf dessen Fragilität hin: Die gemeinsame Vertrautheit ist stets gefährdet, da die quirlige Olga und der eifersüchtige Lenskij keinen gemeinsamen Nenner finden, Onegin in seiner Ziellosigkeit verharrt und Tatjana ihre Wünsche nicht behaupten kann. So bemerkt sie auch nicht, dass ihre Idealvorstellungen der Realität nicht standhalten: Wie in Trance gesteht sie Onegin ihre Liebe in einem Brief, den sie postwendend zurückerhält. Gönnerhaft legt er nach durchzechter Nacht den Brief in eines ihrer Bücher und erklärt, dass er Tatjana zwar verehre, aber ihre Vorstellungen vom Leben zu verschieden sind.
Doch auch Onegin ist aller persönlichen Schwächen zum Trotz nur Kind seiner eigenen Verhältnisse. Auf dem Ball zu Tatjanas Namenstag werden beide von den voyeuristischen Gästen bloßgestellt. Mag ein überdimensionierter Lampion-Mond noch so gütig über dem Fest lächeln, der Sänger Triquet spielt in seinem Couplet frivol mit dem Brief und gibt ihr Geheimnis der Öffentlichkeit preis. Mehr aus Langeweile tanzt Onegin darauf mit Olga und provoziert so Lenskijs Forderung um Satisfaktion. Kurz vor dem Duell gewährt Konwitschny den beiden noch die Versöhnung, ihre Umarmung wird aber jäh unterbrochen. Sie werden von den Chorherren eingekesselt, die sozialen Konventionen fordern Lenskijs Tod. Die sich unmittelbar anschließende Polonaise, eigentlich Introduktion des dritten Aktes, wird hier zu einer Schlüsselszene von äußerster Intensität: Verzweifelt ob seiner Tat tanzt Onegin mit dem Toten, die Leiche liegt ihm fortan auf dem Gewissen.
Zu spät reift die Erkenntnis, dass er nicht nur seinen einzigen Freund verloren hat. Nach Jahren ziellosen Reisens trifft er auf einem Ball Tatjana wieder – doch die ist inzwischen Fürstin Gremina und wird von ihrem Gatten, dem Kriegsveteranen Gremin, wie eine Jagdtrophäe in der Staatsratsloge präsentiert. In Onegin erwachen die Gefühle, die er sich damals nicht eingestehen wollte. Auch Tatjana liebt ihn nach wie vor, beiden bleibt aber nur ein verschwindender Moment des Glücks. Sie verfällt wieder in jene Sozialrolle, die sie sich nach der Enttäuschung selbst auferlegt hat, und spielt sie mit Haltung. Onegin bleibt nichts, als sich nach ihrer Entsagung in die Masse der Gesichtslosen einzureihen, während Tatjana apathisch den Brief zerreißt.
Obwohl Konwitschnys Sicht des Eugen Onegin bereits 1995 ihre Premiere in Leipzig hatte und damals den Nerv der Nachwendezeit traf, ist sie keineswegs in die Jahre gekommen. Eher im Gegenteil: Handwerklich ist die äußerst genaue Personenregie auch nach zahlreichen Umbesetzungen über jeden Zweifel erhaben. Die subtilen Bilder sind von einer Eindringlichkeit, der sich das Publikum nur schwer zu entziehen vermag. Und die Suche nach dem eigenen Platz in der Gesellschaft ist wohl brisanter denn je, selbst wenn der Dandy aus Tschaikowskis Zeiten heute eher dem so genannten akademischen Prekariat zuzurechnen wäre. Auf derartige Aktualisierungen ist die Inszenierung aber nicht angewiesen, sie überzeugt vielmehr durch ihre Reduzierung auf das Wesentliche: Das Beziehungsgeflecht der Protagonisten, die aus ihren tradierten Strukturen nicht ausbrechen können. Mögen sich auch die gesellschaftlichen Systeme verändert haben, das Problem der Selbstverwirklichung bleibt virulent.
Sicher lässt sich darüber streiten, ob die deutsch-russische Textfassung, in der Tschaikowskis Oper in Leipzig gespielt wird, trotz ihrer dramaturgischen Schlüssigkeit noch zeitgemäß ist: Abgesehen davon, dass die Übersetzung Artikulation und Phrasierung eher erschwert, wird in der Symbiose aus szenischem Spiel und Musik ohnehin viel mehr vermittelt. Und die bewegt sich für eine Repertoire-Vorstellung auf erstaunlichem Niveau, wofür auch Matthias Foremny Sorge trägt, der am Pult des bestens disponierten Gewandhausorchesters seinen Einstand als Erster ständiger Gastdirigent der Oper Leipzig gibt. Foremnys transparentes Dirigat besticht durch Sängerfreundlichkeit, kostet aber Tschaikowskis Klangfarben aus und setzt vor allem in den Tänzen eigene Akzente. Als Idealbesetzung erweisen sich die Protagonisten: Pavol Remenár gestaltet die Titelpartie mit kultiviertem Bariton und verleiht dem Onegin eine noble Erscheinung, ohne Zwischentöne wie seine Bindungsangst oder innere Zerrissenheit auszublenden. Allerdings unterstreicht die Inszenierung auch, dass ohnehin Tatjana mit ihrer Wandlung vom schwärmerischen Mädchen zur abgeklärten Fürstin die heimliche Hauptfigur ist, was Marika Schönberg facettenreich bestätigt. Ob dramatische Höhe oder eher lyrische Mittellage, sie punktet in allen Registern und verfügt nicht nur stimmlich über die nötigen Reserven für die anspruchsvolle Briefszene: Schönberg füllt von dem Steg vor dem Orchestergraben die fiebrige, bald fünfzehnminütige Arie auch schauspielerisch ohne falsches Pathos aus. Claudia Huckle setzt mit warmem Timbre einen Kontrapunkt als lebenslustiger Backfisch Olga, während Norman Reinhardt in der Arie vor dem Duell klangschön aufzeigt, dass auch Lenskijs Anspruch, seinem eigenen Selbst treu zu bleiben, nur eine Chimäre war. Unter den Nebenrollen treten vor allem Karin Goltz als pointierte Amme, Milcho Borovinov als sonorer Gremin und nicht zuletzt Viktor Sawaley hervor, der den windigen Triquet bereits bei der Premiere 1996 gesungen hat. Der Leipziger Opernchor präsentiert sich in der Einstudierung von Stefan Bilz gewohnt souverän, übertrifft sich aber in seiner gewohnten Spielfreude noch einmal selbst.
Der immense Jubel im nicht gerade übermäßig besetzten Saal zeigt, dass dieser Eugen Onegin das Publikum nach wie vor auf einer elementaren Ebene erreicht und Fragen aufgreift, die sich jeder schon einmal gestellt hat. Nicht abwarten, hingehen – weitere Vorstellungen sind in dieser Spielzeit am 18.9., 1.1., 13.1. und 15.4.
Eugen Onegin
von Peter I. Tschaikowski
Lyrische Szenen in drei Akten
Text vom Komponisten und Konstantin Stepanowitsch Schilowski nach Puschkin
Musikalische Leitung: Matthias Foremny
Inszenierung: Peter Konwitschny
Premiere: 9. September 2011
3.Platz
Sarah Schramm »Ein Stück Glückseligkeit«
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Friedrich-Rochlitz-Preis für Kunstkritik 2011, Platz 3 für Sarah Schramm – Der Dokumentarfilm »Dem Himmel ganz nah« beschreibt in wehmütigen Bilden den Untergang der Hirtenkultur
Mit zittrigen Bewegungen versucht ein neugeborenes Lamm, sich zum ersten Mal aufzurichten. Bevor es fällt, greift die Hand eines Mannes nach ihm, legt das ängstliche Lamm behutsam zu seiner Mutter. Dort saugt es zaghaft jene Kraft in seinen kleinen Körper, die es zum Leben brauchen wird. Erneut versucht das Neugeborene, auf die Beine zu kommen – und bleibt stehen. Ein Moment des Glücks, ein kleines Naturwunder, eine Momentaufnahme im Dasein der transsilvanischen Hirten in den Karpaten.
Gemeinsam leben dort Mensch und Tier im Einklang mit den unendlichen Weiten der unberührten Natur. Sie bilden einen großen Organismus, dessen Teile einander bedürfen und beeinflussen. Es sind Szenen einer beruhigenden Idylle, eines ursprünglichen Zusammenhaltes – Bilder, die uns Welten entfernt scheinen.
Titus Faschinas Dokumentarfilm Dem Himmel ganz nah löst den Zuschauer aus dem Alltag und entführt ihn in einen völlig anderen, fernab des Bilderstroms der Reizüberflutungsgesellschaft. Eine ruhige Kamera (Bernd Fischer) erzählt eine schwarzweiße Geschichte des alten Europas und bewahrt sie somit vor dem Verblassen. Eine Geschichte, von Menschen zwischen Tradition und Zukunftsängsten – die der Familie Stanciu.
Dumitru, Maria und ihr Sohn Radu Stanciu sind eine der wenigen verbliebenen transsilvanischen Hirtenfamilien. Sie leben in der Wildnis der Karpaten, genießen die Freiheit und sind doch einsam. Mit Dorf und Kirche treten sie nur selten in Kontakt. Ihr Dasein ist ihren Schafen gewidmet – ihrem täglich Brot, ohne das sie im unaufhaltsam voranschreitenden Kosmos unserer Zeit untergingen.
Im Kontrast zur Beschleunigung des Lebens stehen weite, menschenleere Bilder der endlosen Karpaten: erhabene Hügel und Täler, unberührte Wiesen und steinalte Bäume – all das, wonach sich mancher Großstädter sehnt. Der Wechsel von totalen Naturaufnahmen und nahen Einstellungen tätiger Individuen verdeutlicht Einklang, suggeriert eine heile Welt. Doch der Schein trügt. Auch oder gerade dort kämpft man ums Überleben. In einem Teil der Europäischen Union geht, fern von Anti-Atomkraft-Debatten, Euro-Rettungsschirmen und Smartphones einer der ältesten Berufe der Menschheit unter. Unauslöschlich aber ist die Hirtenkultur nicht. Sie hinterlässt Spuren. Überbleibsel, denen der Film nachgeht – sie weiterträgt.
Familie Stanciu tritt in die Fußstapfen ihrer Vorfahren. Im Zyklus der Natur ist sie vom Wetter abhängig. Aufschub gibt es nicht – sonst bleibt der Teller leer. Faschinas Film dokumentiert ein Jahr des Hirtenalltags dieser Familie, lässt uns eintauchen in die Bilder eines anderen, fast himmlischen Ortes.
Im Sommer gibt es reichlich zu tun. Dumitru Stanciu hütet die Schafe, schert und melkt sie. Seine Frau verarbeitet das Material, stellt Käse her. Vater und Sohn sensen das Gras der weiten Wiesen, denn es wird im Winter als Futter benötigt. Dabei herrscht eine meditative Stille. Nichts als das Geräusch des Sensens ist zu vernehmen. Es sind die Klänge und Impressionen der Natur, die diese ganz besondere Stimmung des Films ausmachen. Bild und Ton kreieren etwas Ursprüngliches, sind besonders, gerade weil sie so dezent sind. Ein einsamer, kahler Baum, das Dach der Stanciuschen Hütte, davor ein in Dunkelheit gehüllter Hügel: Gemächlich hebt sich die Sonne hervor, breitet ihre Strahlen über das Bild aus und hüllt die Szenerie in ihr warmes Licht. Ein unglaublicher Filmmoment, ein vergänglicher, der schlichtweg glücklich macht. Um dieses Glück Tag für Tag erleben zu können, arbeiten die Stancius hart. Mit dem Einbruch des Herbstes zerfällt allmählich das Leben; man bereitet sich auf den Winter vor. Es regnet, das Wetter lädt zum sitzen vor dem Feuer. Raum zur Rast aber bleibt nicht – die Zeit lässt sich nicht aufhalten.
Die Kamera dokumentiert das Voranschreiten; die Prozesse, Kreisläufe, große und kleine Veränderungen im Leben der Hirtenfamilie. Seien es die Käseherstellung vom Melken der Schafe bis zum fertigen Produkt oder die Geburt eines Lammes mit dem Blick auf den Tod eines anderen. Über alldem steht die Frage danach, wie lange diese Zyklen noch andauern werden: Wie lange wird der Hirtenbetrieb die Stancius noch nähren können? Wie wird es für Radu nach dem Tod der Eltern weitergehen? Bald wird alles wieder sprießen, Lämmer werden geboren, der Acker umgegraben. Aber was geschieht im nächsten Jahr und im darauf folgenden? Veränderung und Beschleunigung – die Moderne hält Einzug in die Karpaten. So erzählt Dumitru Stanciu davon, wie nach und nach alle Hirtenfamilien der Umgebung ihre Tätigkeit aufgaben, ins Tal zogen, um eine neue Existenz zu gründen. Wird auch er aufgeben müssen? Wer weiß schon, was die Zukunft bringt!
Dem Himmel ganz nah lässt uns zumindest für 90 Minuten nicht darüber nachdenken, was unsere Zukunft bringen wird oder was wir noch alles erledigen müssen. Der Film nimmt Geschwindigkeit und schafft dabei etwas Zeitloses, vielleicht einen Sehnsuchtsort. Als der Abspann läuft, hätte man Grund, glücklich und traurig zugleich zu sein. Glücklich darüber, dass es solche völlig anderen Orte noch gibt; traurig aber, dass sie allmählich zerstört werden. Ich jedenfalls verlasse den Kinosaal ruhig und in mich gekehrt – bin mit dem Kopf in den Karpaten und den Füßen in der Leipziger Innenstadt.
Dem Himmel ganz nah
Deutschland/Rumänien 2010
Regie: Titus Faschina
mit: Dumitru, Maria und Radu Stanciu
2010
1.Platz
Maja Spee »Nichts für Vegetarier«
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Claudia Bauer inszeniert Brechts »Die heilige Johanna der Schlachthöfe« am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin – der Gewinnertext des Friedrich-Rochlitz-Preises für Kunstkritik 2010 (1. Platz)
Fleischfressend, massenproduktiv, kapitalistisch. Die Gesellschaft kommt bei Bertolt Brecht wahrlich nicht gut weg. Die Gesellschaft, die er während der Weltwirtschaftskrise um 1930 mit »Die Heilige Johanna der Schlachthöfe« theatertauglich machen wollte. Und wahrlich die Gesellschaft, die es auch heute noch gibt. Regisseurin Claudia Bauer zeigt mit ihrer gleichnamigen Inszenierung am Staatstheater Schwerin, wie hochaktuell, wie brandneu doch Brechts Kritik an den bestehenden wirtschaftlichen Verhältnissen im Jahre 2010 eigentlich ist. Finanzkrisenzeit ist Brecht-Zeit, so die Lage in Schwerin.
Wie ein heiliger Engel in blond gelocktem Haar macht sich Brit Claudia Dehler als die „heilige Johanna“ auf die Suche nach der Rettung der Armen, nach einer Erlösung der Arbeiter aus ihrem Elend. »Ist's doch die Arbeit, die ihr alle braucht!« tönt Pierpont Mauler, Fleischkönig von Chicago und damit marktwirtschaftlicher Bösewicht des Stückes. Ist's nicht auch eben dieses Brauchen, jene Notdurft zum feindlichen System dazu zu gehören, welche die arbeitende Klasse zu moralisch schlechten Menschen macht? Das jedenfalls ist es, was Johanna Dark zu beweisen gewillt ist. Nicht der Mensch ist schlecht, die gesellschaftlichen Verhältnisse zwingen ihn dazu. Als Leutnant der »Schwarzen Strohhüte«, Brechts Parodie auf die Heilsarmee, macht sich Johanna auf den Weg gegen Ausbeutung und Unterdrückung. Nicht zufällig klingt ihr Name nach der historischen Jeanne d'Arc. Aber ein Strohhut will von religiöser Illusion nichts wissen. So diskutiert die Inszenierung nicht etwa die Existenz Gottes, vielmehr macht sie deutlich, wie der religiöse Mensch in Zeiten der Krise handelt: nicht nachhaltig. Regisseurin Bauer baut hier und da einen kleinen Witz auf Gott und seinen Willen ein. Im Stück spielt dieser eine zentrale Rolle. Es ruft aus allen Ecken: »Gott kann es bezeugen«, zunächst egal was, es folgt ein Blick an die Decke zur Theatertechnik – kein Gott, es folgt der leere Blick in den Saal, da sitzen wir, der Zuschauer – auch kein Gott. So bleiben sie stehen, die Ironie von Claudia Bauer und Brechts fast vergessenes episches Theater. Wir werden zum angeguckten Zuschauer und sind genötigt, mit der Gesellschaftskritik umzugehen. Es ist eine Kritik für jeden im Saal.
Der religiöse und der kapitalistische Mensch werden mit Fortschreiten des Stückes immer mehr gleich geschaltet. Der Glaube an den Fleischmarkt wird zum Glauben an das Schicksal. Marktherrscher heißt in diesem Fall Mauler und ist in Schwerin eine Frau: Bettina Schneider betritt streng das R rollend den Saal, über ihr eine Projektion von Comic-Schweinen, die sich den Schinken gleich selbst vom Hintern schneiden. Hinter ihr ein uniformer Chor aus stummen Kühen. Mit großem treuen Aug' bittet Johanna nun Mauler um Hilfe für die Armen. Dieser will ihr das Gegenteil ihrer Überzeugung weismachen: die Arbeiter allein seien an ihrem Elend und somit an ihrem Fehlverhalten schuld. Eine Irrfahrt zwischen Börsencrash und Viehhandel, zwischen Hoffnung und Kampf, beginnt.
Die zunehmend skurrile Bühnenausstattung aus Masken, Perücken und roten Fahnen, die immer lauter und schriller werdende Musik, gleich den überzogenen Lobgesängen, die das Fass des Pathos zum Überlaufen bringen, holen den Schweriner Zuschauer nicht gar ab und schicken ihn befriedigt in sein Wohnzimmer zurück. Betont expressiv gelingt es Bauer, mit ihrer Inszenierung eine Brechtsche Vorstellung von Theater zu streifen und das Publikum auf sich selbst kritisch aufmerksam zu machen. Von leichter Kost kann nicht die Rede sein. Ein wenig dankbar ist man schon, wenn die eben gekreuzigte Johanna von der Bühne fährt, wenn das „Tanztheater Lysistrate“ sein Rudeltreiben aus Rindern, Uniformierten oder Talibankühen beendet hat, wenn Markus Wünsch als rothaarige Witwe zu jammern aufgibt – wenn das Mikro ausgeschaltet ist und zum ersten Mal nach 2,5 Stunden Stille herrscht.
Ernst und Unernst vermischen sich. Es bleiben Aufatmen und Nachdenken über ein Schwein und ein paar blöde Kühe. Das Steak danach dürfte gelaufen sein.
Die heilige Johanna der Schlachthöfe
von Bertolt Brecht
Inszenierung: Claudia Bauer
Ausstattung: Patricia Talacko / Bernd Schneider
Musik: Smoking Joe
Premiere: 21. Mai 2010, Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin, Großes Haus
2.Platz
Maria Aresin »Neo[N]«
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Die Ausstellung »Neo Rauch – Begleiter« im Museum der bildenden Künste Leipzig – der Gewinnertext des Friedrich-Rochlitz-Preises für Kunstkritik 2010 (2. Platz)
Verwirrend, merkwürdig, unfassbar – das sind Beschreibungen, die von allen Seiten murmelnd an das Ohr des Besuchers drängen, wenn er derzeit die Ausstellung »Neo Rauch – Begleiter« im Leipziger Museum der bildenden Künste betritt. Präsentiert werden rund fünfzig Werke der letzten zwei Jahrzehnte seines Schaffens. Die meisten von ihnen geben sich beachtlich großformatig, wobei eine Entwicklung in Rauchs Schaffen im Wesentlichen weg vom Abstrakten hin zum typisch Figürlichen der Malweise der so genannten Leipziger Schule erfolgt ist. Die Mitarbeit des Künstlers selbst an der Ausstellung ist nicht zu übersehen, handelt es sich hierbei doch um die Retrospektive eines noch lebenden Virtuosen der Malerei.
Die Gemälde sind auf die für Rauch typische Weise einer rätselhaften Traumwelt entlehnt, in der bärtige Gurus Kristalldrusen darbietend in der Lage sind, die Welt zu verändern, riesenhafte Babys wie Heliumluftballons zum Bildrand aufsteigen und sumpfige Landschaften sich mit monströsen Zahnpastahügeln abwechseln. Diese mysteriösen Szenarien wirken durch die klare Flächenaufteilung und den deckenden Farbauftrag umso unverständlicher auf den Betrachter, welcher sich wie vor dem Rätsel der Sphinx genötigt fühlt eine Lösung für dieses wohl sortierte Chaos zu finden. Auch die Titel der Werke, wie »Mittag« oder »Höhe«, die oft in Sprechblasen in das Geschehen platzen, geben wenig Aufschluss über die eigentliche Bedeutung der Szenen. Mit diesen immer wiederkehrenden comichaften Einflüssen scheint Rauch die Ernsthaftigkeit seiner Bilder selbst auf naive Weise zu hinterfragen. Oftmals dominiert der Eindruck einer eindeutig politischen oder gar ideologischen Kulisse, wenn etwa matronenhafte Frauen in sozialistisch anmutender Arbeiterkleidung durch das Bild marschieren oder eine Gruppe Uniformierter Fahnen schwenkend durch Trümmerberge watet. Es klingen jedoch auch traditionell christliche und heilige Motive an. Daher wachen beispielsweise verträumte Engelswesen über eine Modelleisenbahnstadt, eine Märtyrergestalt wankt ähnlich wie Christus das Kreuz tragend in die Szene oder ein Priester einer noch nicht gegründeten Glaubensgemeinschaft schwenkt eine überdimensionale Opiumlampe über die Bühne. Verstärkt wird dieses Gefühl, Zuschauer eines völlig verrückten Tatherganges zu sein, nur noch durch die einzigartig expressive Farbigkeit. Rauch bedient sich der unterschiedlichsten Farbnuancen von dunklem violett bis beißend neongelb. Durch diese kräftigen Töne bewirkt er immer wieder ein Aufeinanderprallen der Extreme: helle und dunkle, warme und kalte Flächen werden miteinander kombiniert und ergeben so durch den komplementären Kontrast eine surrealistische Stimmung, welche zugleich durch die realistischen Formen und Figuren gebrochen wird.
Es kommt zu einer Kollision der Radikale – einer Art Supernova im Auge des Betrachters. Diese einzigartigen Stimmungen, für die Rauch mittlerweile weltbekannt ist und die seinen Stil ausmachen, wirken auf den Besucher sowohl abnorm und abschreckend als auch auf skurrile Weise anziehend. Es grenzt an eine massenwirksame Ästhetik des Ekels, wenn die Menschen in Scharen wie die Motten in das Licht in die Leipziger Ausstellung flattern. Obwohl die Schau für die Kuratoren thematisch keine große Herausforderung darstellt, ist sie es doch wenigstens im logistischen Sinne. Zwar ist das Museum der Bildenden Künste zweifellos das Staatliche Museum mit der größten eigenen Sammlung von Rauch Werken, die meisten Gemälde des Leipzigers befinden sich jedoch auf Grund ihrer Beliebtheit und ihres derzeitigen Marktwertes in Privatbesitz. Die Schau ist zudem eine Kooperation mit der Pinakothek der Moderne in München, welche nochmals etwa siebzig Bilder zeigt.
Der Besucher bekommt hier die einzigartige Chance den Künstler durch die letzten Jahrzehnte seines Schaffens zu begleiten und dabei einen kurzen Blick hinter die Kulissen der nebulösen Traum- und Parallelwelten seines Œuvres zu werfen. Die Frage was Neo Rauchs Welt im Innersten zusammenhält, bleibt so zwar vielleicht für immer ungeklärt, aber was wäre er auch für ein Zauberer, wenn er das Geheimnis seines besten Tricks verraten würde? Eins steht jedoch fest: Wo Rauch ist, da ist auch Feuer!
Neo Rauch – Begleiter
Ausstellung
18. April bis 15. August 2010, Museum der bildenden Künste Leipzig
3.Platz
Amelie Bader »Fotografien auf Augenhöhe«
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Das Tipi im Westwerk zeigt Arbeiten der Leipziger Fotografen Karin Wieckhorst und Christoph Lehmann – der Gewinnertext des Friedrich-Rochlitz-Preises für Kunstkritik 2010 (3. Platz)
Ein Raum, im Westen Leipzigs, getauft auf den Namen Tipi, abgeleitet vom Lakota-Wort thi was so viel bedeutet wie etwa wohnen, leben, verweilen, versammelte unter seiner mit weißen Tüchern verhangenen Decke eine Vielzahl von Gesichtern und Geschichten, die von ihrer, uns fremden Lebensweise berichten. Bilder genau auf Augenhöhe, eng aneinandergereiht hängen sie, einem Filmstreifen ähnelnd an den drei Wänden, führen den Blick von einer Szene zur nächsten, erzählen „Aus dem Leben der Roma“ in Skopje. Farbig steht uns eine Lebenswelt gegenüber, die ansonsten nur zu gern in den Schattenbereich der Gesellschaft verdrängt wird. Ein alter Mann mit grauem Bart, erblindet, steht unter einem Büschel zum Trocknen aufgehängten feuerroten Paprikaschoten, ein kleiner Junge sitzt auf einem Pferd, umarmt vorgelehnt dessen Hals, in einer Einfahrt kommt ein Mann mit Hawaiishorts und stark tatauierten Oberkörper auf uns zu, im Hintergrund ist ein grau längliches Auto mit sechs Vorderlichtern und ein am Hauseingang lehnender Jugendlicher, der uns zulächelt, zu sehen. Es sind Momentaufnahmen, eingefangen von Christoph Lehmann, die weder eine künstliche Distanz erzeugen noch mit tragischer Ernsthaftigkeit die Armut akzentuieren, sondern vielmehr den Betrachter durch einen streifenden Blickkontakt in das Geschehen mit einbeziehen. Man geht vorbei an zwei schmalen Rundbogenfenstern. Durch die kleinen Glasflächen zwischen den eng gesetzten Sprossen sieht man auf das verregnete leer stehende Fabrikgebäude, Flachdächer, schmale Kamine, zwischendurch ein dünnes grünes Bäumchen. Dann rückt die nächste Bildreihe von Karin Wieckhorst „FREMDE. Asyl in Sachsen“ in das Sichtfeld. Zwei Frauen stehen lange vor einem Frauenportrait, betrachten, vergleichen ihre Gesichtshälften, denn eine davon scheint mehr zu lächeln als die andere.
Raunend, gläserklirrend, hüstelnd, murmelnd, lachend, redend werden die Stuhlreihen in der Mitte des Raumes besetzt. Wein und Schnittchen, Bier und Zigaretten, an die Bar gelehnte Organisatoren mit Strohhut, langen Haaren, herumlaufende Kinder und irgendwo vorne an einem kleinen Pult baut Jovan Nikolic, ein „Roma-Literat“ seinen Bücherstand auf. Er, der Grund warum hier noch alle zusammen verweilen fängt an vorzulesen. Mit mächtiger rauchiger Stimme wirft er Sätze in den Raum, Sätze in serbokroatischer Sprache, ob der feinen Betonung, der sich hebenden Augenbraue und der stark aufbrausenden und wiederverebbenden Lautstärke, des Blickes durch die Reihen und der kurzen Bedenkensstille scheint es einem fast so als verstünde man was da vorgetragen, was da erzählt wird, manch einer schmunzelt, manch einer lacht, mein Nachbar freut sich über den Klang der unbekannten Sprache. Dann wird das Stück, übersetzt ins Deutsche, vorgetragen von seiner Assistentin, flach und streng betont, so dass man hier letztlich zwar mehr Worte versteht und weiß, dass es sich um eine verzweifelte Liebeserklärung, um eine Schilderung des betrunkenen Großvaters, um die enge Beziehung zwischen Roma und ihren Pferden handelt aber doch nicht so sehr mitlacht, mitfühlt als in seiner Version. So bleibt zum Schluss der Eindruck bestehen, dass grenzüberschreitende Verständigung zweierlei bedarf: dem Wort und der Empathie. Und beides fand man sowohl in der lyrischen Darbietung als auch visuell verarbeitet in den Bildern wieder.
Karin Wieckhorst: »FREMDE. Asyl in Sachsen«
Vernissage - Fotoausstellung und Lesung
Christoph Lehmann: »Aus dem Leben der Roma«
6. Mai 2010 Tipi im Westwerk
2009
1.Platz
Caroline Baetge »Streiflicht der Vergangenheit«
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Text folgt...
2.Platz
Philipp Seitz
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Text folgt...
3.Platz
Verena Zuber
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Text folgt...
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